Die gesamte große Pause hindurch nutzten Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, Selfies mit den Theaterkünstlern des Teatro Trono zu machen, so begeistert hatte sie diese Truppe aus fünf bolivianischen Jugendlichen im Alter von 14-27 Jahren mit der Aufführung ihres Stückes „El Ser-Vil“. Entgegen der Sehgewohnheiten der ca. 350 Schüler*innen der Klassenstufen sieben bis zehn spielte die Sprache dabei so gut wie keine Rolle. Mit musikalischen, akrobatischen, tänzerischen, clownhaften, pantomimischen und auch theatralen Elementen schufen die drei männlichen und zwei weiblichen Mitglieder der Truppe mitreißende Bilder auf der Bühne, die ein allegorisches Märchen über Umweltzerstörung, Konsum- und Gesellschaftskritik, Gender sowie den sich alles aneignenden Kapitalismus erzählten.
An die Aufführung schloss sich eine Fragerunde an, in der sowohl Fragen zum Stück als auch zum Hintergrund der Truppe gestellt und von den Künstlern mithilfe einer Übersetzerin beantwortet wurden. Wie fasziniert von der Performance und interessiert an den Jugendlichen aus einem anderen Erdteil die Schüler*innen waren, zeigte sich daran, dass die Fragerunde aus zeitlichen Gründen sogar abgebrochen werden musste. Neben Namen und Alter der Künstler*innen auf der Bühne sowie Fragen zum Stück beschäftigte die Schüler*innen auch, wer den Jugendlichen denn die beeindruckenden Kunststücke beigebracht habe. Das, so antworteten die Gefragten, hätten sie selbst getan, wie sie auch das Stück selbst erarbeitet hätten. Denn im Teatro Trono lernen die Jugendlichen voneinander und lehren sich gegenseitig in Workshops. Es gibt keine Hierarchien und die Gruppen finden sich zu neuen Projekten auch immer wieder neu zusammen. An der Reaktion der Schüler*innen konnte man ihr Erstaunen darüber deutlich vernehmen, denn schließlich ist ihnen vor allem das hierarchische Lernarrangement vertraut, sei es in der Schule oder im Verein. Doch diese Gleichrangigkeit der Jugendlichen ist ein Kernmerkmal des Teatro Trono, schon seit seinen Anfangstagen vor 30 Jahren, als der Sozialarbeiter und Pädagoge Iván Nogales damit begonnen hatte, mit Straßenkindern Theater zu spielen und ihnen einen Raum zu geben, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und auszudrücken, sie künstlerisch zu transponieren und durch die Kunst die individuelle sowie die gesellschaftliche Veränderung voranzutreiben. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind Truppen des Teatro Trono immer wieder im Programm der unter der Schirmherrschaft der Deutschen UNESCO-Kommission und UNICEF-Deutschland stehenden Kinderkulturkarawane, deren Anliegen neben der Vermittlung einer globalen Perspektive für Schüler*innen in Deutschland genau in diesen Punkten der Erfahrung von Selbstwirksamkeit und sowie gesellschaftlicher Transformation durch Kultur liegen.
Dass in diesem Jahr Schulklassen kostenfrei an der Performance von Teatro Trono teilnehmen konnten, ist der Finanzierung durch die „Partnerschaft für Demokratie“ in Radolfzell, zu verdanken. Mittel aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben“ konnten dafür akquiriert werden. . Doch die Finanzierung ist nur die eine Seite der Organisation, waren für die Realisierung des Auftritts doch auch Frau Berger-Geiger von der terre des hommes Gruppe Radolfzell, die Lehrerinnen Frau Walter Lassonczyk und Frau Vetter vom FHG, aber auch die Schüler*innen vom AK Event, namentlich Arthur Kessler aus der 10c, der für die Technik vor Ort verantwortlich zeichnete, mit großem Engagement beteiligt; nicht zu vergessen die Familien vom FHG, bei denen die fünf bolivianischen Jugendlichen mit ihrer bolivianischen Gruppenbegleiterin und einer deutschen Tourbegleiterin von der Kinderkulturkarawane während ihres Aufenthalts von Montagabend bis Donnerstagmorgen untergebracht waren. Neben der Aufführung am FHG und einen Tag später an der Tegginger Schule konnten die Akteure des Teatro Trono noch Freizeit genießen im Kletterwerk und im Schwaketenbad. Ein gemeinsamer Abend mit den Gastfamilien im Lollipop beendete den ersten Tag.
Die mitreißende Aufführung am FHG konnte aus Sicherheitsgründen leider nur die Hälfte der Schülerschaft miterleben. Doch diese wurden von den musikalischen, pantomimischen, tänzerischen und akrobatischen Choreografien in ein märchenhaftes Reich der Bilder entführt, in dem ein seltsames und böses Wesen (eine Übersetzungsmöglichkeit des Titels des Stücks Ser-Vil) sich tarnt, die Menschen umgarnt und sie mithilfe von technischen Medien ruhigstellt, mit denen es sie sogar beherrscht (womit diese sich dann servil also dem seltsamen Wesen dienend verhalten; dies die zweite Übersetzungsmöglichkeit von Ser-Vil), sich weiterhin widersetzende Gegner*innen bekämpft sowie von allem Besitz ergreift und eine Spur des Mülls und der Verwüstung hinter sich lässt. Im märchenhaften Ausgang und fulminanten Finale des Stücks besiegen die dem bösen Wesen als Antagonistin gegenüberstehende indigene Frau und die Geister der Natur das schwer zu fassende Monster in einer anspruchsvollen Jonglage-, Tanz- und Akrobatik-Choreografie mit Jonglierkeulen. Doch die Freude über den Erfolg währt nicht lange, im realistischen Nachspiel packt das Monster im Kontrast zu den vorherigen aufwendig choreografierten Kämpfen im Vorübergehen sie alle zusammen in einen Plastiksack und zieht sie von der Bühne.
Auf die entsprechende Nachfrage einer Schülerin antworteten die Künstler, dass sie mit diesem desillusionierenden Ende auf die schlimme Lage in der Welt aufmerksam machen wollen und dass jetzt die Zeit gekommen ist, das Leben in die Hand zu nehmen und nicht auf Veränderung zu warten, denn nach dem Motto des Teatro Trono sei ihnen wichtig zu vermitteln: „Die Zukunft beginnt heute.“ Eine Message, die für die Schüler*innen wachrüttelnd und ermutigend sein soll, denn sie sind es, die diese Zukunft mitgestalten und zu einer Veränderung beitragen müssen.
Für einen ganz kleinen, ausgewählten Kreis, die 8a, gab es dann noch eine Überraschung, als die Truppe des Teatro Trono nach der Aufführung, der Fragerunde und den Selfies zu Besuch in den Musikunterricht bei Herrn Dierschke kam. Passenderweise befand sich die Klasse in der Unterrichtseinheit Latin Percussions, bei der die bolivianischen Theaterkünstler gleich mitmischen konnten und am Ende der Musiksaal zu einem trommelnden und tanzenden Ort des interkulturellen Austauschs wurde, in dem die Schüler*innen noch intensiver als bei der Aufführung erfahren konnten, dass Kunst und Musik Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede spielend überbrücken können.
(Johannes Geisthardt)